Worpswede 12.2.2005



Gewaltige Stimme am Gehstock

Die Rolling Stones sind nicht immer die besten Interpreten ihrer eigenen Songs. Die Begründung für diese gewagte Behauptung lieferte die amerikanische Reibeisenstimme von Mitch Ryder, gemeinsam mit der deutschen Bluesrockband Engerling, am Dienstagabend im gut gefüllten Lindenpark. Schon nach den ersten Nummern dieses Abends, an dem der "weiße Soul-Shouter" einen Querschnitt seines gesamten Schaffens zeigte, forderten einige weibliche Fans lautstark seine Interpretation des Jagger/Richards-Klassikers "Heart of Stone". Der 60-jährige Sänger aus Detroit reagierte geduldig, zeigte sich geschmeichelt und verwies darauf, dass es "noch eine lange Nacht" werde. Mit der Melodie von "Heart of Stone" im Ohr gingen die Besucher dieses magischen Konzertes dann um kurz vor Mitternacht nach Hause.
Mitch Ryder kopiert keine Fremdkompositionen, ähnlich wie die verstorbene Country-Legende Johnny Cash macht er diese zu seinen eigenen. "Gimme Shelter", ebenfalls von den Stones, geriet mit der Ryder-Engerling-Formation zu einem Sturm, im wahrsten Sinne des Wortes, in dessen Refrain sich das Publikum fast wegduckte. Die Stimme dieses Mannes, der fast unbeweglich am Mikro steht und die Bühne, wegen eines Leidens, am Gehstock betritt, ist gewaltig. Bei "Heart of Stone", in dem von der Gefühlskälte einer Geliebten die Rede ist, steigt Mitch mit all seinem gesanglichen Volumen, nahe an der Schreigrenze, voll ein. Dagegen wirkt das Original von Mick Jagger wie ein verzweifeltes Säuseln. Ryder zerpflückt die Stones-Melodie, baut gesprochene Passagen mit ein, wimmert und heult wie wildes Tier. Bei diesem letzten Stück erweckt er das Publikum aus der Zuhörerrolle, fordert es zum Mitsingen auf. Seine kaputte Hüfte hat er jetzt vergessen, er bewegt sich ausgreifend. "Im nächsten Jahr komme ich wieder und tanze für euch", verspricht Ryder zuversichtlich, angesichts seiner bevorstehenden Hüftoperation.
KaSa
17.2.2005

Berlin 6.2.2005

Eine Stimme mit großer Wirkung

Von Tom Bullmann
Osnabrück
Es ist ein wenig so, als stünde dort ein Zombie auf der Bühne der Lagerhalle: Getarnt mit einem schwarzen Hut und einer großen Sonnenbrille, bewegt sich die Gestalt am Mikrofon sehr reduziert, irgendwie kantig und nicht wie aus dieser Welt. Vor allem nicht wie aus der Rock'n'-Roll-Welt, in der das Publikum bevorzugt agile Performer liebt, die nicht nur etwas für die Ohren bieten. Zur Ehrenrettung von Mitch Ryder, der diese Assoziation hervorruft, muss gesagt werden: Dem Sänger bleibt momentan keine andere Wahl, als sich "hüftlahm" zu geben, denn er musste sich vor nicht allzu langer Zeit einer Operation unterziehen, bei der ihm eine neue Hüfte eingesetzt wurde. Aber weil der Shouter aus Detroit ein echter Rocker ist, geht er trotz Handicap auf Tournee. Aber auch ohne Hüpf-Eskapaden hat Mitch Ryder genug zu bieten, denn seine Stimme reicht aus, um die Lagerhalle knapp zwei Stunden aufs Beste zu unterhalten. In den 26 Jahren, die vergangen sind, seitdem Ryder in Deutschland durch einen WDR-Rockpalast-Auftritt jäh populär wurde, hat sein knarziges Gesangsorgan kaum an Wirkung verloren. Noch immer sorgen seine Stimmbänder für Gänsehaut - wenn sie beispielsweise in einem ruhigeren Bluessong zu einem beängstigenden Urschrei genötigt werden: als würde ein Vulkan explodieren. Das sind Ausbrüche, gegen die selbst Joe Cockers berühmt-berüchtigte Kreisch-Eruptionen verblassen. Auch die Rolling Stones lässt Ryder ziemlich alt aussehen, denn seine Versionen von "Gimme Shelter" und "Heart of Stone" haben mehr urwüchsige Kraft, als Jagger und Co. heutzutage zu bieten bereit sind.
Natürlich darf der Ryder-Klassiker "Ain't Nobody White (Can Sing the Blues)" nicht im Programm fehlen. Eingeleitet von der Frage, ob jemand im Publikum alt sei, widmet er den Song voller Inbrunst all den "Youngstern" im Saal. Begleitet wird er dabei von einer kompetenten deutschen Band, die sich einst in der DDR als Engerling einen Namen machte und jetzt zusammen mit dem amerikanischen Gast- Gitarristen Steve Hunter bravourös rockt und groovenden Soul aus den Instrumenten zaubert. Die treibenden Medleys "Jenny Take a Ride" und "Devil With a Blue Dress on" verfehlen ebenso wenig ihre Wirkung wie diverse neue Songs vom aktuellen Album "A Dark Caucasian Blue", in denen Mitch Ryder eher dem Blues frönt. Den Zuschauern gefällt die Show so gut, dass sie dem Sänger, der nach dem Konzert am Krückstock durchs Foyer zum wartenden Auto geht, noch einen Extra-Applaus spendieren.

München, Monofaktur, 03.03.2005

Mitch Ryder zieht auch 2005 noch gut 350 Leute. Natürlich ist er wieder mit seiner deutschen Stammformation ENGERLING unterwegs, doch diesmal hat er anstatt des großartigen Showgitarristen und schwierigen Menschen Robert Gillespie den großartigen Virtuosen Steve Hunter dabei. Der spielte schon vor 35 Jahren in Ryders Band DETROIT, war 1998 ebenfalls mit auf Tour und wirkte bei Produktionen wie "Berlin" von Lou Reed oder "Billion Dollar Babies" von Alice Cooper mit, hat für Peter Gabriel, Jack Bruce, Tracy Chapman und viele andere gespielt und ist eigentlich eine Legende für sich. Als Belohnung durfte er nun in München in ständiger Todesgefahr schweben, denn die Lautsprecherbox über ihm wackelte dermaßen bedenklich, daß man sich um ihn und Keyboarder Boddi Bodag echte Sorgen machen mußte. Hunter hat einen sehr spezifischen und individuellen Sound und stellt sich absolut in den Dienst der Band. Bis auf ein kleines Solo- Intermezzo rockt er, oftmals in Zwiesprache mit Heiner Witte an der anderen Gitarre, beeindruckend durch einen beeindruckenden Set.
Mitch Ryder ist gerade 60 geworden. Er hat eine neue Hüfte, offensichtlich Schmerzen, und eine neu gewonnene Gelassenheit. Aus dem zynisch-witzigen und angriffslustigen "angry old man" mit politischem Sendungsbewußtsein ist ein entspannter Geschichtenerzähler geworden, der zwischen den Songs Anekdoten erzählt und sich lieber selbst auf die Schippe nimmt, als gegen Bush & Co. zu wettern. Resignation? Jedenfalls findet sich kein War, kein Terrorist, Bang Bang und auch kein Soulkitchen im diesjährigen Programm. Dafür aber eine unerhörte Anzahl von live selten oder noch nie gespielten Songs, die sich bisher auf den Platten versteckt hatten oder gar nur als Single erschienen sind. Auf die ganz infernalischen Brüll-Songs verzichtete Mitch diesmal, und auch wenn dem ein oder anderen etwas fehlt, die Performance verliert dadurch nicht einen Funken ihrer Intensität - ein Mitch Ryder Konzert ist nach wie vor eine emotionale Berg- und Talfahrt (angesichts der furchtbaren Soundverhältnisse in diesem Club dürfte einigen Besuchern auch der Blutdruck deutlich geschwankt haben - eine junge Frau würde dann auch prompt ohnmächtig).

Berlin - Schöneiche 6.3.2005 Foto: Joachim Schönberg

Jenny Take A Ride und Devil With A Blue Dress dürfen natürlich nicht fehlen, werden auch früh abgehandelt, aber Perlen wie Bare Your Soul, Everybody Loses oder Liberty kommen so neu, überraschend und erfrischend, daß man Ryder für seine Innovationsfreude nicht genug bewundern kann. Das Stichwort ist "Spannung". It Ain't Easy oder Red Scar Eyes erzeugen Gänsehaut, mit When You Were Mine hätte er vor 20 Jahren einen Monsterhit haben müssen, andere hätten ihn damit heute noch, Takin' All I Can und Betty's Too Tight (übrigens eine witzige Transenstory) lassen einen staunen und immer wenn die Band losläßt, wachsen die teils wirklich betagten Stücke zu ganz großer Rock & Roll-Unterhaltung. Blues, Soul, Funk oder Hardrock, mit dieser Band im Rücken klingt alles wie aus einem großen, dampfenden Topf mit ganz scharfem Chili con Carne.

Man hat Ryder selten so unternehmungslustig erlebt, seine Lust auf mehr ist ihm anzusehen, und wenn klappt, was uns seine Frau Megan freudestrahlend erzählt hat, werden wir noch in diesem Jahr eine faszinierende neue, alte CD in Händen halten. Das Passions Wheel dreht sich weiter, wenn auch nicht mehr ganz so rasend wie früher, dafür sind die hinterlassenen Eindrücke tiefer denn je.
Home of Rock, 5.3.05



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